Die Orthographie des Mittelfranzösischen (16. Jahrhundert)
Geschichtlicher Hintergrund
Das 16. Jahrhundert wird allgemein noch dem Mittelfranzösischen zugerechnet, da das Neufranzösische im Wesentlichen auf der Sprache des 17. Jahrhunderts beruht.
Die französische Sprache verdankt ihre rasch wachsende Popularität der Reformation und der Gegenreformation. Um die breiten Massen für sich zu gewinnen, schrieb jede Partei ihre religiösen Streitschriften in der Sprache dieser breiten Massen - eben auf französisch. Auch medizinische Fachwerke wurden gegen den Willen der Autorität vom Lateinischen ins Französische übersetzt. Das Edikt von Villers-Cotterêts machte dem unnatürlichen Zustand ein Ende, dass das Lateinische traditionsgemäß noch in Teilbereichen verwendet wurde; seitdem war nun das Französische zulässig ("langage maternel françois et non autrement").
Am Interessantesten ist aber die Tatsache, dass man im 16. Jahrhundert begann, sich auch retisch mit der Muttersprache zu beschäftigen. Dazu war aber der Anstoß von außen nötig, welcher aus Italien kam; dort hatte man sich schon ab 1500 besonders intensiv der questione della lingua gewidmet. Die wesentlichen Kontakte kamen durch die "Italienischen Kriege" (1495-1529) zustande, während denen einigen Diplomaten die Errungenschaften der italienischen Renaissance bekannt wurden. Diese bestanden darin, dass man sich an die Antike zurückerinnerte, lateinische und griechische Texte kommentierte und das Latein Ciceros als Wert anerkannte, an dem alle Äußerungen in dieser Sprache zu messen seien.
Humanisten brachten diese Erkenntnisse nach Frankreich, was eine Abwertung des dort gesprochenen Mittellateins, der Gelehrtensprache, zur Folge hatte, da mancher wissenschaftliche oder technische Sachverhalt sich auf Latein überhaupt nicht oder nur schwer ausdrücken ließ. Dadurch stieg die Bedeutung des Französischen rapide an.
Als im 16. Jahrhundert der Buchdruck begann, warfen Bücher in der Vulgärsprache den meisten Gewinn ab, obwohl auch in der griechischen und hebräischen Sprache gedruckt wurde.
Die Sprachtheoretiker jener Zeit stellten bezüglich einer Norm schnell den usage in den Mittelpunkt und ergänzten diesen noch um das Adjektiv bon. Die Sprache des Lyrikers Rabelais, der in der Volkssprache schrieb und alle Register der Sprache durchkreuzte, fiel diesem bon zum Opfer. Also konnte die Sprache des Volkes nicht als bon usage gelten, allenfalls wird ihm eine gewisse Mitwirkung bei der Erstellung einer Norm zugestanden. Die Mehrzahl der Theoretiker sieht den bon usage in einer kleinen sozialen Schicht realisiert, nämlich bei Hofe oder im Parlament. Der Dialekt der Ile-de-France, der sich ja vorher schon zum vorherrschenden Dialekt entwickelt hatte, wird auch als Basis der vorbildlichen Sprache deklariert. Seit dem Zeitpunkt, als man beginnt, Reflexionen über die Muttersprache anzustellen, ist von der Volkssprache keine Rede mehr.
< Seite 23 < > Seite 25 >