Die Orthographie des Mittelfranzösischen (14.-15. Jhdt.)
Die Relatinisierung und die Einführung der Doppelbuchstaben
Als im 14. und 15. Jahrhundert die klassische Antike wiederbelebt wurde und man begann, lateinische Texte zu lesen bzw. zu übersetzen, wurde man sich der Tatsache bewusst, dass es für viele lateinische Fachtermini im Französischen noch kein Äquivalent gab. Also übernahm man die entsprechenden lateinischen Wörter und gab ihnen nur ein französisches Aussehen. So wurde die Sprache durch diese Übersetzungstätigkeiten ungemein bereichert, und viele der so geschaffenen Wörter haben sich bis heute erhalten, wie z. B. commerce, examen, fabrique, famille, die meisten Abstrakta auf -ence, -eur, -ité, -ment und eine Reihe neuer Verben, die man, ohne sie zu verändern, aus dem Lateinischen übernahm. Diese Latinismen wurden zunächst jedoch nur in der Sprache der herrschenden Schichten und nicht in der Volkssprache benutzt.
Mit der Zeit fing man sogar an, Buchstaben, die im Laufe der Entwicklung etymologisch verschwunden waren, graphisch wieder einzusetzen. So wurde aus doutte doubte (von lateinisch dubitare), outre wurde zu oultre wegen lateinisch ultra und so weiter. Es kam auch zu falschen Ableitungen, denn man schrieb sçavoir und je scé in der Annahme, dieses Verb sei aus scire entstanden.
Die neu eingeführten Wörter haben auch die Bildung von Doppelkonsonanten zur Folge, die man bis dato im Altfranzösischen nicht kannte. Ab dem 14. Jahrhundert finden wir Wörter wie appeler, souffrir, attendre, mettre, lettre, elle und celle. Auch die Nasalkonsonanten wurden verdoppelt, um zu zeigen, dass der vorangehende Vokal nasal ausgesprochen wird: bone wird zu bonne (wegen [õ]), doner wird donner, pome wird pomme. Auch nasalierte Diphthonge werden so gekennzeichnet: certainne, fontainne etc. In der Euphorie über die neuen Doppelkonsonanten tauchen sie auch an Stellen auf, an denen gar kein Grund besteht: succres, affin, chappeau, conffermer, deffends, parolles.
Im Altfranzösischen besaß das h lediglich in Wörtern germanischer Herkunft die Funktion eines Hauchlautes. Es wurde aber auch am Anfang lateinischer Wörter verwendet, und da besonders vor , aber nur, um dieses u von dem Konsonanten v zu unterscheiden; das Zeichen v war nämlich noch nicht vorhanden. Deshalb war klar, dass hui nur das Wort für "heute" bezeichnen konnte und nicht vi (= je vis). Dieses wurde ja nur ui geschrieben. Ebenso unterschied die Graphie huis das Wort uis (Tor) von vis (Schraube). Durch die Latinisierung beginnt man jedoch nach und nach wieder damit, den Buchstaben h dort hinzuzufügen, wo er im Lateinischen schon gewesen war, d. h. man schrieb wieder homme und nicht omme (wegen lateinisch homo) oder hostel (altfrz. ostel, lateinisch aber hospitale).
Nimmt man als weiteres Beispiel die Entwicklung des klassisch-lateinischen hora, so fällt auf, dass es im Vulgärlatein nur noch ora ausgesprochen wurde. Die Schreibung wurde dann im Franzischen, d. h. im Dialekt der Ile-de-France, an die Aussprache angeglichen, man schrieb also eure. Durch eine Relatinisierung der Schreibweise ist jedoch dieses h wieder erschienen, welches man heute noch bei dem Wort heure vorfindet.
All diese Änderungen verkomplizierten die Graphie und entfernten sie immer mehr von der Aussprache. Nicht mehr die Tradition, sondern das persönliche ästhetische Empfinden einzelner Schreiber bestimmte ab jenem Zeitpunkt die Orthographie. Diese Tendenz setzte sich auch im 16. Jahrhundert fort, was den Gedanken zu einer Rechtschreibreform wachsen ließ.
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