Die Orthographie des Mittelfranzösischen (14.-15. Jhdt.)
Lautliche und graphische Veränderungen im Mittelfranzösischen des 14. und 15. Jhs.
Die Wiedereinführung von verstummten Konsonanten und der Stammausgleich
Durch den Einfluss der morphologischen Schreibweise geht man dazu über, im Laufe der Entwicklung verstummte Endkonsonanten wieder einzuführen. Diese waren vor der Pluralendung ausgefallen, wodurch man im Altfranzösischen z. B. drap - dras, chief - chies, jorn - jors etc. schrieb. Man begann, sie wieder im Singular als auch im Plural mitzuschreiben, es erscheinen also die Formen draps, chiefs, sacs usw. 
Auch das l wurde an den Stellen, an denen es zu u geworden war, wieder eingesetzt; man schrieb also cheval - chevauls, chevel - cheveuls, fol - fouls. Da aber vorher dieses Plural-s schon zu x geworden war, trifft man in überlieferten Texten auf Formen wie chevaulx, cheveulx, foulx u. ä.
Besonders kurios war die Tatsache, dass ab dem 13. Jahrhundert vielfach sogenannte parasitäre Konsonanten eingeführt wurden, von denen der Schreiber annahm, sie hätten zum Etymon gehört. Beaulieux ist überzeugt, dass es aber nicht immer an der etymologisierenden Schreibweise lag, sondern vielfach auch am Interesse der Schreiber selbst, die pro Zeile entlohnt wurden und somit gerne mehr Buchstaben verwendeten, um die Zeilen zu längen. So entstanden völlig verunstaltete Worte wie eschecqtz für échec oder soubzhaictier für souhaiter. Ein Überbleibsel dieser Entwicklung ist der Name Lefébure, der heute neben Lefèvre existiert und zu einer historisch gesehen völlig unsinnigen Aussprache führt, da sich das b lautgerecht zu v entwickelt hatte. Die Theorie von Beaulieux ist aber mittlerweile widerlegt, da man auch viele Abkürzungen und Ähnliches in solchen Texten nachgewiesen hat.
Die wieder eingefügten Buchstaben wurden aber nicht ausgesprochen; deshalb kam es in einigen Fällen zu einem sogenannten Stammausgleich, durch den eine einzige Form des Wortstammes erreicht wurde. Entweder wurde dabei der Stamm des Singulars verallgemeinert (wie z. B. in chiefs, clefs, coups, draps, sacs etc.), wobei der eingefügte Konsonant auch wieder gesprochen wurde, oder man ging vom Plural aus (wie z. B. cor statt corn wegen cor(n)s, hiver statt hivern, jour statt journ etc.). Bei einem Teil dieser Wörter hat sich die Aussprache mit dem zusätzlichen Konsonanten bis heute so erhalten.
Ganz besonders gravierend war dieser Stammausgleich bei den Stämmen, die auf -l geendet waren; bei ihnen ging der Unterschied zwischen Singular und Plural vollständig verloren. Schrieb man vorher bel - beaus, chevel - cheveus, col - cous, so wurden deren Singulare zu beau, cheveu, cou, wobei die ältere Form col in einer anderen Bedeutung erhalten blieb. Weitere Beispiele sind mantel > manteau, chapel > chapeau und genoil > genou.
Zuletzt kam es in seltenen Fällen zu einem solchen Ausgleich auch bei den Stämmen auf -f: Statt baillif - baillis schrieb man später bailli - baillis, statt jolif kam joli (wegen jolis). Bei clé und seiner Nebenform clef kann man heute noch diese Entwicklung erkennen.
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